Dieser Text schließt an den Beitrag „Sind Wahrnehmung, Gedanken und Gefühle berechenbar?“ an und ist – mit dem Format entsprechenden Abwandlungen – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?„
Das lädt natürlich zu Widerspruch ein. Zum Einen ist es der Umstand, dass wir unseren Bewusstseinsstrom nicht als Ansammlung unzähliger kleiner Daten- und Zahlensätze erleben, die in irgendeiner Rechenoperation zusammengezählt nachträglich unser alltagsbewusstes Erleben ergeben. Zwar hat unser Erleben verschiedene voneinander unterscheidbare Aspekte und Qualitäten, doch ist es von vornherein in sich eins. Zum Anderen widerstrebt der Gedanke, wir seien durch mathematische Operationen determiniert, unserer Intuition, freie und kreative Individuen zu sein.
Um dem zu begegnen, will ich untersuchen, warum genau die oben angesprochene fundamentale Einheit des Erlebens der Fall ist. Meines Erachtens kann der Grund dafür nicht in den Relationen der Erlebnisse zueinander gesucht werden (wie es beispielsweise Whitehead tut, was interessanter-weise nichts anderes ist als das Postulat, dass diese fundamentale Einheit aus relationalen und damit prinzipiell mathematisch fassbaren Vorgängen herrührt, denn Mathematik ist die Wissenschaft von der Relation von Entitäten zueinander), sondern muss in einer mit sich identischen Instanz liegen, auf die sich alle diese Erlebnisse ultimativ beziehen: Es ist unser personal einheitliches Ich-Empfinden, das das In-sich-eins-Sein unseres Erlebens ausmacht. Wir sind es, die das alles erleben. Wir bleiben, was dieses reine Ich-Erleben angeht, mit uns identisch trotz aller wechselnden Erlebnisinhalte, trotz des Wechsels unserer Überzeugungen, Annahmen, Stimmungen, Erkenntnisse etc..
Zwar hat das phänomenale Erleben etwas für sich selbst Stehendes. Dass beispielsweise das visuelle Erleben der Farbe Rot nicht sinnvoll in noch fundamentaleren Begrifflichkeiten beschrieben werden kann (hier ist wohlgemerkt der Erlebensgehalt, der qualitative Aspekt gemeint – also wie es ist, rot zu sehen, und nicht die physikalischen Fakten, die dazu führen, dass etwas von jemandem als rot wahrgenommen wird), leuchtet vermutlich jedem sehenden Menschen nach kurzer Reflexion ein. Mein Erlebnis der Farbe Rot hat etwas fundamental Einheitliches und zutiefst Unmittelbares an sich. Ich muss es im Erleben nicht zuerst aus noch fundamentaleren Erlebnisbausteinen synthe-tisieren, um dann zur Erkenntnis „ich sehe Rot“ zu kommen und auch andersherum kann ich, sozusagen aposteriori, nichts Fundamentaleres erleben, aus dem das Rot zusammengesetzt ist, was selbst nicht rot ist (noch einmal: es geht hier um das Erleben der Farbe Rot und nicht um die damit korrelierenden physikalischen Prozesse), sondern ich sehe ganz einfach und unmittelbar Rot. Es mag zwar Teil eines weiter gefassten Erlebensprozesses sein, in dem es auch andere Aspekte als die Farbwahrnehmung „rot“ gibt, doch für deren Erleben gilt dies analog. Die Farbwahrnehmung „rot“ ist qualitativer Natur und deren Wahrnehmung kann nicht erschöpfend beschrieben werden durch emittierte Wellenlängen, die auf die Retina treffen, von dort ins Gehirn gelangen und neuronale Prozesse auslösen. Selbst wenn ich ein vollständiges Wissen über diese Vorgänge erlangen würde, würde ich dadurch nicht die Farbwahrnehmung selbst erleben – zumindest gehöre ich jener Fraktion an, die genau das glaubt und es nicht für plausibel hält, dass ein vollkommenes Wissen über all jenes in einem spontanen, unmittelbaren Erleben der Farbe Rot münden würde. Durch ein mathematisches Wissen über die Vorgänge kann ich lediglich auf die Außenseite des Phänomens schauen. Durch das Erleben der Farbe Rot würde ich daher etwas Neues lernen (wenn ich um des Gedankenexperiments willen annehme, dass ich vorher noch nie Rot gesehen habe), was ich nicht durch den Erwerb vollständigen Wissens über die physikalischen Fakten gelernt habe. Dadurch würde ich erst dasjenige Phänomen erleben, über dessen strukturelle Merkmale ich bereits vollständig Bescheid weiß. Für mich liegt das auch aus anderem Grund völlig auf der Hand, dass ich durch ein vollständiges, nicht visuell erlebnismäßiges Wissen über die physischen Vorgänge, die der Farbe Rot und unserer visuellen Wahrnehmung von ihr angehörig sind, keine Erfahrung von Rotsehen selbst erlange: Ich gehe einfach nicht davon aus, dass Sprache die Wirklichkeit selbst ist und direkte visuelle Eindrücke auslösen kann. Wohl vermag die eigene Imaginationskraft dies vermittels Sprache zu tun, aber dazu benötigt es die vorherige direkte Erfahrung desjenigen, was ich imaginiere. Mir ist kein einziger Fall bekannt, bei dem dies anders gewesen ist. Auch gehe ich nicht davon aus, dass der Sehsinn auf die anderen Sinne reduzierbar ist. Denn ich kann ja Wissen über all diese physischen Fakten nur sprachlich oder über andere Sinnesorgane vermittelt bekommen, wenn das direkte visuelle Erlebnis ausgeschlossen ist. Für mich ist evident, dass es nicht möglich ist, den erlebnismäßigen Aspekt von Materie auf ihren strukturellen Aspekt zu reduzieren – ähnlich wie es uns völlig klar ist, dass die Landkarte nicht das Gebiet selbst ist, das sie darstellt – und dass Rot sehen etwas anderes ist als Informationen über andere Sinneskanäle über die Farbe Rot zu bekommen oder meinetwegen auch visuelle Informationen über die Farbe Rot, die nicht die Rotheit selbst sind (indem man zum Beispiel mit den Augen einen Text über die Farbe liest oder ein Diagramm anschaut, in dem ihre Wellenlänge dargestellt ist).
Allerdings ist es in Wahrheit gar nicht so einfach, den strukturellen von dem erlebnismäßigen Aspekt abzugrenzen, denn ist es ja so, dass die Aneignung von Wissen über die Farbe Rot, welches nicht das Sehen der Rotheit selbst einschließt, ebenso ein Erlebnis ist wie das visuelle Erlebnis der Rotheit. Also müsste man viel mehr sagen, dass das, was wir bisher den strukturellen Aspekt genannt haben, ebenfalls zu einer Ansammlung erlebnismäßiger Aspekte der Farbe Rot wird, wenn wir anfangen, uns das Wissen über diese anzueignen – nur eignen wir uns eben eine Erfahrung all jener Aspekte an, die Rot aufweist, ohne Rotheit selbst zu sein. Wir erleben diese Wissens-aneignung, wir müssen sie vollziehen. Es ist evident, dass ein vollzugsmäßiger Unterschied zwischen dem Erleben der Wissensaneignung ohne das direkte visuelle Erleben der Rotheit und dem Erleben der Wissensaneignung durch das direkte visuelle Erleben der Rotheit besteht. Diese Erlebnisvollzüge sind eindeutig voneinander unterscheidbar und ich halte es wie gesagt auch ohne die Notwendigkeit eines weiteren Beweises für unmöglich, dass im Endergebnis dasselbe dabei rauskommen wird. Im Folgenden werde ich davon als Prämisse ausgehen und werde den entsprechenden im Leib-Seele-Diskurs vielfach unter dem Namen Wissensargument oder Mary’s Room diskutierten Gedankengang hier nicht weiter ausführen.
Auch Qualia – also die Erlebnisgehalte mentaler Zustände im Zusammenhang mit den auslösenden physiologischen Reizen – wie das Erleben der Farbe Rot scheinen demnach etwas in sich Abgeschlossenes, in irgendeiner Weise Fundamentales zu haben. Doch was verleiht ihnen diesen Charakter? Der Begriff der Qualia ist meines Erachtens gerade dadurch definiert, dass sie für jemanden irgendwie sind, also von jemandem erlebt werden – erst das Vorhandensein von personal einheitlichem Bewusstsein macht die Rede von Qualia intelligibel. Wenn niemand da ist, der erlebt, wie soll man da von Erlebnisgehalten sprechen? Somit können sie selbst nicht wirklich fundamental sein, wenn sie zur Voraussetzung haben, dass jemand sie erlebt. Viel eher scheint dieser „Jemand“, wenn dieser die Voraussetzung bildet, den Status des Fundamentalen zu haben. Also können es nicht die Inhalte phänomenalen Erlebens sein, die ihm den Charakter des fundamental Einheitlichen verleihen, sondern der oder die Erlebende, die Instanz, die „ich“ zu sich selbst sagt und die das Erleben überhaupt zu einem solchen macht, selbst aber nicht mit dem Erlebnis identisch ist. Jemand hat die Farbwahrnehmung Rot, anderenfalls würde es überhaupt keinen Sinn machen, von Erleben zu sprechen. Ferner hat das phänomenale Erleben an sich, wie oben auch schon erwähnt, sehr wohl voneinander unterscheidbare Aspekte durch seine wechselnden Inhalte. Es durchläuft eine Entwick-lung in der Zeit und zeichnet sich dadurch auch durch eine Form der Relationalität und Relativität aus. Das Gleiche gilt für sämtliche kognitiven Inhalte: nicht nur Sinneswahrnehmungen, auch Gefühlserleben und der Gedankenstrom sind prozessual und damit einer Entwicklung in der Zeit unterworfen. Folglich kann es nur der Erlebende selbst bzw. sein Ichsein sein, welches den kognitiven Prozessen inneren Zusammenhang verleiht, und diese Fähigkeit kommt ihm nur deswegen zu, weil es anders als die Inhalte des Erlebens selbst konstant und mit sich identisch bleibt. Erleben bekommt seinen einheitlichen Ausgangs- und Bezugspunkt nur durch das Ich, durch das das Erlebnis erst erlebnishaft ist.
Nun könnte man noch wie beispielsweise Whitehead oder andere Prozessphilosophen behaupten, dass dieses Ich eine Instanz ist, die entsteht, wenn die jeweiligen Einzelmomente nur die richtige Beziehung zueinander aufweisen bzw. dass das Ich gar identisch mit diesen Beziehungen sei (quasi analog zur physikalistisch-funktionalistischen Argumentation, die behauptet, mentale Zustände seien identisch mit den kausalen Beziehungen, die die physischen Entitäten, die das neuro-physiologische Netzwerk des Gehirns formen, untereinander haben). Doch dieses personal ein-heitliche Ich kann aus meiner Sicht nichts Abkünftiges aus irgendwie aufeinander bezogenen Erlebnisschnipseln oder gar identisch mit deren Beziehungen zueinander sein. Im ersten Falle setzt dies wieder die Rede von Qualia in Abwesenheit eines Jemand voraus, der sie erlebt (denn dieser Jemand soll ja erst aus den Erlebnisschnipseln hervorgehen), was ich für nicht plausibel halte. Nehme ich den zweiten Fall der Identität an, stellt sich die Frage: Woher sollen diese Einzelmomente in ihrer Vielheit die Fähigkeit nehmen, etwas fundamental Einheitliches zu konstituieren, das ungeachtet aller Erlebnisinhalte mit sich identisch bleibt? So groß auch die Ähnlichkeit der Einzelmomente von Moment zu Moment zueinander sein mag, so fällt es mir sehr schwer, das, was ich als Ichsein erlebe, als dadurch instantiiert oder auch damit identisch aufzufassen. Es wäre dieser Serie von einander sehr ähnlichen Einzelmomenten vielleicht möglich, eine Art von illusionärer Identität zu erzeugen, die in Wahrheit nur eine Ähnlichkeit von Moment zu Moment darstellt und uns damit irgendwie unsere Ich-Existenz vorgaukelt (die kursiv gehaltenen Worte zeigen, dass wir einfach nicht aus der fundamentalen Ichvoraussetzung allen Erlebens herauskommen, aber um der Klarheit willen will ich das Argument noch weiter durchspielen). Doch angesichts der einzigen Tatsache, die ich mit absoluter Sicherheit behaupten kann, nämlich dass ich bin, scheint mir diese Erklärung nicht überzeugend. Diese Einheit kann nichts sein, was aposteriori aus etwas nicht Einheitlichem entsteht und in Wahrheit lediglich etwas ist, was sich von Moment zu Moment ähnelt. Denn Ähnlichkeit ist keine transitive Relation, das heißt, die Ähnlich-keitsrelation von a zu b ist nicht identisch mit der Ähnlichkeitsrelation von a zu z: Das letzte Glied einer Kette von konstant zueinander ähnlichen Momenten kann schon keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem ersten Glied haben, wenn die Kette nur lang genug ist. Die jeweils benachbarten Momente und auch noch ihre nähere Umgebung mögen einander noch an Identität grenzend ähnlich sein, aber wenn man weit voneinander entfernte Momente vergleicht, sind sie einander sehr unähnlich.
Nachvollziehbarer wird dies vielleicht durch ein kurzes Gedankenexperiment: Denken Sie zurück an zwei oder drei verschiedene Erlebnisse in ihrer Vergangenheit. Sie alle werden sich voneinander sowohl räumlich als auch zeitlich als auch inhaltlich unterscheiden. Die einzelnen Erlebnisse für sich genommen waren in sich schlüssig und stimmig und Sie erlebten keine unlogischen Brüche im Realitätsgefüge, das heißt, die vielen kleinen Einzelmomente, aus denen sie bestanden, waren völlig schlüssig aufeinander bezogen. Bis hierhin könnte man eventuell noch behaupten: Es kann möglicherweise innerhalb des begrenzten Rahmens eines Erlebnisses aufgrund der Ähnlichkeit seiner Konstituenten so etwas wie eine schwache Identität entstehen (auch wenn es eigentlich letztlich völlig willkürlich ist, an welchen Punkten im Leben man die Grenzen setzt und den Zeitraum zwischen diesen Grenzen dann als ein Erlebnis bezeichnet – diese Grenze ist eine künstliche). Wenn Sie nun aber die verschiedenen Erlebnisse miteinander vergleichen, werden Sie feststellen, dass Ihr Körper bei jedem Erlebnis ein anderes Alter und eine andere Konstitution gehabt haben wird, vielleicht haben sich auch Ihre psychische Verfassung, Ihre Werte, Über-zeugungen und Charaktereigenschaften gewandelt. Sie haben vielleicht gar eine komplette Persönlichkeitsveränderung durchgemacht. Doch wer war diese Instanz, die sowohl die zueinander ähnlichen Einzelmomente innerhalb des einen Erlebnisses als auch den ganzen weiten Bogen der unterschiedlichen Erlebnisse erlebt hat? Vermutlich würden Sie ganz einfach sagen: „Ich war das.“ Zumindest, wenn ich dies für mich durchexerziere, gibt es eine Instanz, die sich durch all die wechselnden Umstände und Erfahrungen hindurch konstant gehalten hat. So war ich immer ich, egal, wie sehr sich meine Persönlichkeit, mein Weltbild, mein Körper oder meine Lebensumstände geändert haben. Das Ich selbst unterlag dabei keinerlei Metamorphose, was man ja aber annehmen müsste, wenn man annimmt, dass es aus Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Einzelmomenten entsteht. Es gibt aufgrund dieser starken Identität am Grunde allen Erlebens gute Gründe anzunehmen, dass diese Instanz, also das Ich, nicht mit den Umständen, Erfahrungen und Erinnerungen identisch sein kann und auch nicht aus diesen durch die richtige Bezogenheit entsteht. Das Ich ist und bleibt offenbar nur mit sich selbst identisch.
Phänomene wie Derealisation oder Depersonalisation oder Krankheiten wie Schizophrenie oder Dissoziative Identitätsstörung könnte man zunächst als Gegenargumente gegen meine These anführen, da es bei ihnen ja eben doch zum Verlust des Ichgefühls oder Aufspaltung des Ich in verschiedene Persönlichkeiten kommt, aber ich denke, dass, wenn in der Psychologie vom Ich-Verlust geredet wird, der Begriff des Ich eine andere Bedeutung hat als der, den ich hier verwende. Da ich das Ich nicht identifiziere mit Persönlichkeitsmerkmalen, weder mit mentalen noch mit physischen, gehe ich davon aus, dass es dennoch immer je ein und dasselbe Ich ist, das Phänomene wie Derealisation oder Depersonalisation erlebt oder eben, im Fall der DIS, ein- und dasselbe Ich in verschiedene Persönlichkeiten hineinschlüpft. Wenn ich mich an Phasen meines Lebens erinnere, in denen ich aufgrund einer schweren Depression Zustände der Depersonalisation und Derealisation erlebte, so war es ganz klar ich, die das erlebte – auch wenn ich es zuweilen als sehr verstörend erlebte, dass alle Persönlichkeitsmerkmale auf einmal gewissermaßen zur Disposition standen und auch die Identifikation mit meinem Körper und meiner Biografie sich in Fragezeichen aufzulösen schien. Dennoch war das Ich damals dasselbe Ich, in dessen Bewusstsein jetzt der Schreibvorgang dieses Essays erscheint. Freilich ist es zum einen eine anekdotische Erzählung und zum anderen das Erleben aus der Perspektive einer damals depressiv Erkrankten. Daher ist die Frage, ob das in Bezug auf die oben genannten Krankheiten überhaupt eine Aussagekraft hat – denn man kann zum Beispiel anzweifeln, dass die Derealisation und Depersonalisation, die Schizophrene oder Menschen mit DIS erleben, mit den Depersonalisations- und Derealisierungszuständen einer Depression vergleichbar ist. Aber eigentlich spielt das keine große Rolle, denn ich identifiziere das Ich mit keinerlei veränderlichen (Bewusstseins-)Zuständen, sondern mit nichts außer mit sich selbst. Damit ist das Ich auch zum einen nicht identisch mit Wahrnehmung. Zum anderen ist die Anerkennung der Gültigkeit dieses Ich-Begriffs von der Bedingung enthoben, dass man sich im alltagsbewussten Zustand ans Vorhandensein des Ich-Gefühls erinnern muss – und damit möchte ich meine Entgegnung auf das Argument einläuten, dass schizophrene Menschen im Extremfall doch so etwas wie einen totalen Ich-Verlust erleben, also davon berichten, in einem schizophrenen Schub phasenweise gar nicht mehr da gewesen zu sein. Erinnerung ist eine Funktion, die jenseits des reinen Ichseins anzusiedeln ist und zum raumzeitlichen Aspekt der Wirklichkeit gehört. Ich jedoch nehme das Ich als jenseits der Raumzeit an. Es ist völlig leer und noch nicht mal das ist eine gültige Aussage, da „leer“ ein Begriff ist, der sich auf relationale und damit auf raumzeitliche Zustände bezieht. (Mir ist bewusst, dass diese Aussage einigen Wissenschaftlern die Haare zu Berge stehen lassen wird, da der allgemeinen Auffassung nach mit leeren Begriffen keine präzise wissenschaftliche Rede möglich ist. Dies ist für relative Phänomene zweifellos korrekt. Doch ich komme nicht umhin, das Ich als diejenige Instanz zu betrachten, die per definitionem nicht definierbar im Sinne einer horizontal-relationalen Definition ist. Ich schreibe mehr dazu in den folgenden (Unter-)Kapiteln.) Daher würde ich auch nicht davon sprechen, dass im Tiefschlaf unser Ich verschwindet, sondern ich würde sagen, dass lediglich keine Erinnerung an die Zeit vorhanden ist, in der sich unser Körper im Tiefschlaf befindet. Eventuell ist auch keine Wahrnehmung vorhanden – dazu kann aber logischerweise nichts gesagt werden, wenn keine Erinnerung vorhanden ist. Interessant in dem Zusammenhang ist aber die Fähigkeit einiger im luziden Träumen geübten Menschen, den Zustand des Tiefschlafs eben doch zu erinnern. Es gibt in der Disziplin des luziden Träumens einen Zustand, der „Basale Klarheit“ oder auch „Traumlose Klarheit“ genannt wird und der Berichten von geübten Träumenden zufolge die ganze Nacht und auch im Tiefschlaf beibehalten werden kann. Dies wird zum Beispiel vom Psychologen, Klartraumforscher und Klarträumenden Paul Tholey berichtet. Er erzählte unter anderem 1989 in einem Interview mit dem Psychologen und Klartraumforscher Stephen Laberge, das bei der „Association for the Study of Dreams (ASD)“-Konferenz in London stattfand, davon. Auch der Klarträumer und Astralreisende Jürgen Ziewe berichtet davon, diesen Zustand zu erinnern, zum Beispiel in dem YouTube-Video „Weitere Antworten über das Leben nach dem Tod“ auf seinem Kanal „Jurgen Ziewe“. Auch der Zustand des reinen Gewahrseins jenseits der Zustände Wachen, Träumen und Tiefschlaf, welches bereits in der Mandukya-Upanishad als vierter Bewusstseinszustand aufgeführt und mit dem Begriff „Chaturtha“ (Sanskrit für „der Vierte“) bezeichnet wurde, hat Ähnlichkeiten mit der Basalen Klarheit. Ein heute geläufigerer, synonymer Begriff für den Chaturtha-Zustand ist der Begriff „Turi-ya“. Das Erreichen des Turiya-Zustandes wird in einigen yogischen und hinduistischen Strömungen als das höchste Ziel des Lebens angesehen. Berühmte Beispiele für Menschen, die den Turiya-Zustand nach eigenen Angaben erreicht haben, sind der Yogi Paramahansa Yogananda oder der Begründer des Gaudiya Vaishnavismus, Chaitanya Mahaprabhu. Doch liest man sich die Erfahrungsberichte beispielsweise in Klartraumforen durch, so wird schnell klar, dass auch ganz gewöhnliche Menschen, die keine weltweite Bekanntheit genießen oder eine eigene spirituelle Bewegung gegründet haben, diesen Bewusstseinszustand erreicht haben.
Ein weiterer interessanter Zustand, den klarträumende Menschen kennen, ist der Zustand des Voids. Auf der Plattform Klartraum-Wiki, einer Enzyklopädie für den Themenbereich des luziden Träumens, wird er beschrieben wie folgt:
„Als Void wird oft ein Zustand zwischen den Träumen beschrieben, in den man etwa von einem Traum aus gelangt und von welchem aus man auch in einen willentlich bestimmten oder zufällig entstandenen weiteren Traum reisen kann. Alternativ kann man auch im Void verweilen. Das Void stellt dabei einen „leeren Raum“ dar, allerdings ohne ein geometrischer Raum zu sein. Meist wird es als Schwärze beschrieben, zugleich heißt es aber, dass eigentlich nichts wahrgenommen wird, also auch kein visueller Eindruck von Schwärze. Es handelt sich deswegen auch nicht bloß um einen Traum, in dem nur die Sicht „ausfällt“, sondern um einen Zustand ohne jegliche Wahrnehmung.“
https://www.klartraum-wiki.de/wiki/Traumlose_Klarheit#Void
Hier wird also ein „Zustand ohne jegliche Wahrnehmung“ beschrieben, der – nimmt man an, dass sich die nächtlichen Bewusstseinszustände von luzide Träumenden nicht grundsätzlich von denen gewöhnlicher „Trübträumer“ unterscheidet, sondern dass der einzige Unterschied zwischen Klarträumern und Trübträumern lediglich darin besteht, dass sich Erstere an mehr erinnern als Letztere – ein häufiger Zustand zwischen zwei Träumen ist. Normalerweise wird dieser nicht erinnert, aber es gibt offenbar Menschen, die sich eben doch daran erinnern, auch noch in einem Zustand jenseits jeglicher Wahrnehmung bewusst zu sein.
Leider ist zu allen oben genannten Phänomenen – Basale Klarheit, Turiya, Void – bisher relativ wenig systematische Forschung von wissenschaftlicher Seite betrieben worden.¹ Dementsprechend müssen diese Erlebnisberichte aus derzeitiger wissenschaftlicher Perspektive eher als Anekdoten oder gar als religiöse Überzeugungen gesehen werden, dennoch denke ich, dass inzwischen eine ausreichende Menge von Menschen unabhängig voneinander von diesem Phänomen berichtet hat, um das Phänomen als real zu betrachten und es systematisch zu erforschen. Für meine Zwecke führe ich es hier an, um die These zu untermauern, dass Ichsein auch vorhanden ist, wenn 1. die Erinnerung aussetzt, was die Beispiele von Menschen belegen, die sich eben doch an ihre bewusste Anwesenheit während Zuständen erinnern, an die normalerweise keine Erinnerung vorliegt, und 2. keinerlei Wahrnehmung vorhanden ist wie im Void.
Wenn es nun nicht unsere relativen Eigenschaften sind, die uns zu uns selbst machen bzw. unsere Identität begründen, sondern ein reines Ich jenseits aller Relata, ergibt sich daraus eine andere Frage, und zwar, ob, und wenn ja, inwiefern sich das Ich der einen Person gegenüber dem Ich einer anderen Person abgrenzen lässt. Auch ist fraglich, ob ein Ich jenseits aller Relata überhaupt identifizierbar wäre (sowohl von „innen“ heraus als reines „Ich bin“ als auch von „außen“ als ein „Da ist jemand“) und ferner, ob die hier vorgestellte Position nicht in das Postulat führt, dass wir jenseits unserer relativen Unterschiede alle dasselbe Ich (im quantitativen Sinne) haben bzw. sind. Das scheint auf den ersten Blick sehr unplausibel: Es ist offensichtlich, dass ich nur meinen Leib von innen erlebe und nicht den meiner Mitmenschen, und dass ich ebenso wenig deren Gedanken denke. Der Frage nach der Unterscheidbarkeit und Identifizierbarkeit der Ich-Instanzen wird später ausführlicher nachgegangen und der Antwort darauf scheint eine fundamentale Unentscheidbarkeit anzuhaften. Zunächst möchte ich jedoch noch einmal auf die oben angeführte Grundintuition zurückkommen, die besagte: Erleben bekommt seinen fundamental einheitlichen Charakter nur durch diejenige, für die das Erlebnis irgendwie ist und nicht durch das phänomenale Erleben selbst. Das Postulat, dass phänomenales Erleben mathematisch fassbar sein muss, steht also nicht im Konflikt mit dem Empfinden der fundamentalen Einheit desselben, weil diese einen anderen Ursprung hat. Auch kann festgestellt werden, dass Intentionalität und teleologische Orientierung (also jene Eigenschaften, wegen derer wir uns als ein Wesen mit freiem Willen und Absichten begreifen) ebenfalls nicht mit mentalen Vorgängen identifiziert werden können. Die Argumentation ist hier völlig parallel zu jener bezüglich der Qualia: Die Rede von Intentionalität und teleogischer Orientierung ist nur intelligibel unter der Annahme eines Jemand, der intentional und teleologisch orientiert ist. Es ist immer ein Ich, das intentional ist, nicht ein mentaler bzw. phänomenaler Vorgang an und für sich. Es braucht für eine Intention freilich etwas, auf das sie sich richten kann, ein Medium, in dem sie sich auswirken kann. Doch aus dem phänomenalen Erleben selbst oder aus einer Abfolge von Einzelerlebnissen mit spezieller Relation zueinander lässt sich eine Entstehung von Intentionalität nicht ableiten, weil sich die Entstehung eines Ichs daraus nicht ableiten lässt – welches aber vorhanden sein muss, damit die Rede von Intentionalität intelligibel ist. Das bedeutet, dass das Ich, welches der Ursprung der fundamentalen Einheit unseres Erlebens ist, ebenso der Ursprung unserer Freiheit ist, wenn wir Freiheit als das Vorhandensein von Intentionen (oder Willen) und die Möglichkeit, diese durch Entscheidungen und darauf basierende Handlungen zu verwirklichen, begreifen. Also hat auch unsere Freiheit ihren Ursprung jenseits mathematischer Gesetzmäßigkeiten und wird von diesem Postulat nicht berührt. Unser freier Wille liegt jenseits des phänomenalen Erlebens und kann niemals durch einen logischen Determinismus eingeholt werden. Freilich sind der Verwirklichung unserer Absichten Grenzen gesetzt, es gibt also Bedingungen, unter denen wir ihn realisieren können – vor allem darf die zu realisierende sich nicht im logischen Widerspruch zum Rest der Welt befinden – , aber der Wille selbst, der ist frei und nicht Teil einer Kausalkette, in der er ein determiniertes, eingezwängtes Glied unter anderen Gliedern ist. Er ist viel mehr der Ursprung neuer Kausalketten – die, wie erwähnt, freilich nicht im logischen Widerspruch zu bereits existierenden Kausalketten stehen dürfen. (Die Annahme eines deterministischen Weltbilds, welches die Freiheit des Willens leugnet, führt tatsächlich in letzter Konsequenz die Logik selbst ad absurdum und sägt damit den eigenen Ast ab, siehe Kapitel 3.5.1..)
Nun stellen sich folgende Fragen:
- Könnte, analog zu unserer Vokabel des „Ich“ im linguistischen Sprachgebrauch, auch in der Mathematik ein Symbol gefunden werden, das es ermöglicht, über jene Instanz zu sprechen, in der unsere Identität (im Sinne von „mit dem eigenen Ich identisch sein“), die Einheit unseres phänomenalen Erlebens und unsere Freiheit gegründet sind? Sind in der Mathematik schon Entitäten mit geeigneten Kriterien bekannt?
- Wie kann eine Mathematik des phänomenalen Erlebens konkret aussehen? Unterscheidet sie sich prinzipiell von der bisher bekannten gewöhnlichen Mathematik beziehungsweise muss die gewöhnliche Mathematik um diese ergänzt werden oder ist die gewöhnliche Mathematik, wie sie zur Berechnung des Verhaltens von Materie angewendet wird, bereits eine Mathematik des phänomenalen Erlebens, weil die mathematisch beschriebene Materie ja auch immer die von uns erlebte Materie ist? Braucht es nochmal eine „extra“ Mathematik der Gedanken und Gefühle und wenn ja, in welchen Räumen ist diese zu finden?
- Ist es überhaupt wünschenswert, eine Mathematik zu betreiben, in der das Ich und der subjektive Aspekt mit einbezogen werden? Was würde uns das bringen und welche Konsequenzen hätte das?
Ich beginne mit der Diskussion der ersten Frage…
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¹ Ich persönlich finde, dass auch dem Ansatz der Selbsterfahrung und -erforschung derjenigen Menschen, die mit ihrem eigenen Bewusstsein in jener Hinsicht praktizieren, durchaus verdient das Attribut der Wissenschaftlichkeit zugesprochen werden kann, sofern sie sorgfältig darauf achten, dass sie ihre Erlebnisse nicht durch religiöse oder philosophische Vorannahmen interpretieren oder sich zumindest dieser Voran-nahmen bewusst sind und sie im Sinne wissenschaftlicher Redlichkeit offenlegen. Es gibt durchaus einige Menschen, die derart methodisch vorgehen, dann ihre eigenen Schlüsse basierend auf ihrer eigenen Erfahrung ziehen und darüber im Modus des Berichts und der argumentativen Verteidigung der eigenen Schlussfolgerungen (und nicht im Modus der Predigt) in der Öffentlichkeit sprechen. Auch hierfür ist Jürgen Ziewe meiner Meinung nach ein gutes, prominentes Beispiel. Aber es gibt neben ihm auch hier einige Beispiele von weniger bekannten Menschen, die bei der Erforschung ihres Bewusstseins ebenso im Sinne wissenschaftlicher Methodik und Redlichkeit vorgehen, wenn man den Erlebnisberichten beispielsweise aus Klartraumforen Glauben schenken darf. Daher meine ich hier mit „von wissenschaftlicher Seite“ jene Wissenschaft, die von der breiten Gesellschaft gegenwärtig als solche anerkannt wird.