Dieser Text schließt an den Beitrag „Bin ich identisch mit meinem Erlebnisstrom und daher berechenbar?“ an und ist – mit dem Format entsprechenden Abwandlungen – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?

Analog zu den linguistischen Sprachen gibt es in der Mathematik durchaus die Möglichkeit, sinnvoll über absolute Naturen zu sprechen, also über Entitäten, die sich wie das Ich durch eine fundamentale Nicht-Relationalität auszeichnen, und zwar indirekt im Sinne eines Verweises auf die – immerhin exakt bestimmbaren – Grenzen mathematischer Definierbarkeit und auf das Sein eines Jenseits dieser Grenze. Diese Entitäten sind die intrinsischen oder echten Singularitäten (im Gegensatz zu sogenannten Koordinatensingularitäten, die durch Wechsel in ein anderes Koor-dinatensystem behoben werden können). Echte Singularitäten zeichnen sich dadurch aus, dass sie mathematisch nicht definiert sind, da hier Unendlichkeiten auftreten. So hat die Null im Grunde genommen die Eigenschaften einer Singularität: Es kann nicht sinnvoll durch Null geteilt werden, da bei dem Teilen durch etwas unendlich Kleines das Ergebnis im Grenzwert ebenso gegen Unendlich streben würde. Dennoch bildet die Null den Ursprung eines jeden Koordinatensystems. Selbst ist sie weder positiv noch negativ und hat damit auch keinen (quantitativen) Wert, bildet aber den Ausgangspunkt sowohl für die positiven und negativen reellen und imaginären Zahlen. Etwas, das an sich mathematisch nicht definierbar ist, bildet dennoch einen zentralen Bezugspunkt allen mathematischen Denkens. Auch in anderen mathematischen Theorien nehmen Singularitäten eine zentrale Rolle ein:

In der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) treten Singularitäten in Form von Schwarzen Löchern auf (lässt man bei der Lösung für ein Schwarzes Loch die Zeit „rückwärts laufen“, d.h. setzt man ein negatives Vorzeichen vor die entsprechenden Feldgleichungen, hypothetisch auch in Form von Weißen Löchern). In der Singularität eines Schwarzen Lochs divergiert die Raumzeit durch unendliche Krümmung, mithin ist die Singularität eines Schwarzen Lochs selbst kein Bestandteil der Raumzeit. Daher sind auch physikalische Größen wie Masse, Größe und Dichte dort nicht mehr definiert bzw. unendlich. Die Singularität eines nichtrotierenden Schwarzen Lochs ist punktförmig, d.h. unendlich klein, im Falle eines ungeladenen rotierenden Schwarzen Lochs ist sie ringförmig, allerdings ist dieser Ring unendlich dünn und hat keine Ausdehnung, da er, wie auch die Punkt-singularität bei r = 0 (Radius = 0) auftritt. Dennoch lässt sich aus den entsprechenden Gleichungen ermitteln, dass die Singularität eines rotierenden Schwarzen Lochs verschieden von der eines nicht rotierenden Schwarzen Lochs ist, da sie nur auftritt, wenn gleichzeitig noch ein anderer Parameter erfüllt ist, aus dem sich eben auf diese Ringform schließen lässt. Es handelt sich hier wie bei den höheren Dimensionen, die in der Quantenphysik so erfolgreich eingesetzt werden, um eine sogenannte „unanschauliche“ mathematische Eigenschaft.

Eine weitere Singularität wird in der Physik in der Urknalltheorie angenommen: Demzufolge entstand das Universum aus einer Singularität, in der – so eine beliebte populärwissenschaftliche Darstellung – all seine jetzigen Bestandteile auf unendlich kleinem Raum zusammengedrängt waren. Korrekterweise müsste man hier allerdings von einem ewigen Nichtraum sprechen (und selbst das ist in Anbetracht der völligen Abwesenheit derjenigen Entität, anhand dieser sich der Nichtraum in der Abgrenzung eben als Nichtraum identifizieren ließe, nicht ganz korrekt), da auch in der Anfangssingularität Dimensionen nicht definierbar sind. Es ist damit auch die Rede von einem unendlich kleinen Raum, auf dem alle Energie des Universums zusammengedrängt war, streng genommen nicht korrekt. Die Raumzeit mit all ihren mathematisch beschreibbaren Eigenschaften trat erst in die Existenz, nachdem sich der Urknall ereignete. Dementsprechend beschreibt die mathematische Theorie das Universum auch erst ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt ab 10-43 Sekunden nach seinem Entstehen, da in der Singularität die Naturgesetze, die erst in Raum und Zeit ihre Wirkung antreten, noch nicht gegolten haben können. (Man bemerke die Parallele zum Ich, das jenseits jeden phänomenalen Erlebens ist und daher auch nicht durch mathematische Berechenbarkeit determiniert ist.) Retrospektiv jedoch kann mithilfe derselben Mathematik logisch nahtlos auf die Anfangssingularität des Universums geschlossen werden! (Auch dies erinnert an das Ich, welches sich selbst lediglich in der Reflexion erkennen kann, in seinem augenblicklichen Vollzug aber uneinholbar für die Erkenntnis ist.) Anders als die Singularität eines Schwarzen Lochs, die von einer bereits bestehenden Raumzeit umhüllt wird und von einem Ereignishorizont umgeben ist, ist die Urknallsingularität von keinem Außenraum umgeben und hat dementsprechend auch keinen Ereignishorizont. Hier wird es etwas anschaulicher, dass es keinen Sinn ergibt, von der Urknallsingularität als etwas unendlich Kleinem zu sprechen, denn es fehlt jeglicher Bezugspunkt zu etwas im Vergleich dazu existierenden Größeren.

Vorausgesetzt, die Urknalltheorie ist korrekt und das Universum hat keinen es umgebenden Außenraum, kann konsequenterweise auch nicht davon gesprochen werden, dass das expandierende Universum immer größer wird, sich also vom Kleinen hin zum Größeren entwickelt, denn es fehlt ein demgegenüber externer Bezugspunkt. Was durch die Expansion tatsächlich geschieht, ist, dass sich Distanzen von Objekten innerhalb des Universums vergrößern. Insofern könnte das Universum selbst als absoluter Ereignishorizont (im Vergleich zum relativen Ereignishorizont eines schwarzen Lochs, auf den man von außen schauen kann) interpretiert werden. So betrachtet hat das Universum noch immer den Charakter einer Singularität, nur dass diese dadurch charakterisiert ist, dass anders als beim schwarzen Loch nicht sinnvoll von einem sie umgebenden Außen gesprochen werden kann bzw. in einem hypothetischen Außen ebenso wie in der Anfangssingularität alle raumzeitlichen Attribute nicht existent sein können, weil das Universum, wenn es aus einer Singularität kam, die Totalität alles raumzeitlich Existierenden sein muss. Ein etwaiges „Außerhalb“ wäre ein „Nirgendwo“. Man könnte sich fragen, ob dann nicht dieses „Nirgendwo“ als eine Entität jenseits der Raumzeit nicht auch den Charakter einer Singularität hat. So gefasst bietet sich das Bild eines Universums, welches aus einer Singularität entstanden und noch immer vollkommen „eingebettet“ in eine Singularität ist (wobei der Begriff des „Eingebettetseins“ wieder irreführend ist, suggeriert er doch eine raumzeitliche Relation), woraus sich auch hier wieder die mögliche Schlussfolgerung ergibt, dass das Universum selbst auch nichts anderes sei als eine Singularität – jedoch eine, die dazu fähig ist, ihren Modus zu wechseln. Mit den Punkt- und Ringsingularitäten in nichtrotierenden und rotierenden Schwarzen Löchern existieren bereits zwei Entitäten mit je völlig verschiedenen Eigenschaften im Kanon der theoretischen Physik, denen dennoch beiden die fundamentalere Eigenschaft der Singularität zukommt. Daraus folgt, dass eine Singularität offenbar verschiedene Modi annehmen kann, ohne dabei ihre Eigenschaft als Singularität zu verlieren. Zumindest kann aber, wenn vielleicht der Begriff der Singularität in Bezug auf das Universum nicht ganz adäquat ist, weil uns durch eine Verwässerung des Vokabulars die Unterscheidungsmöglichkeiten verloren gehen, gesagt werden, dass das Universum nicht wesensverschieden von der Singularität sein kann, aus der es geboren ist und, so wie die Urknallsingularität offenbar den Keim des Universums in sich trägt, das Universum den Keim der Singularität in sich trägt. Die beiden sind offenbar fundamental verwandt.

Analoge Überlegungen ergeben sich für das Alter des Universums: Auch wenn das Universum erst 14 Milliarden Jahre alt ist, muss man zugleich sagen, dass es schon immer existiert hat, wenn „immer“ als zeitlicher Begriff verstanden wird. Denn vor dem Universum war keine Zeit, dementsprechend war es nie nicht. Es gibt kein „Davor“, weil Zeit in einer Singularität nicht definiert ist. Diese 14 Milliarden Jahre sind eine relativistische Größe, die nur für Entitäten innerhalb des Universums Sinn ergibt, die nicht identisch mit dem Universum als Ganzes sind. Wenn man also den Begriff der Zeitlichkeit in seiner Totalität und in Bezug auf die Singularität betrachtet, verschwimmt auch er an seinen Grenzen in die Ewigkeit.

Im Rahmen der Quantenfeldtheorien werden Elementarteilchen als punktförmig, also im mathematischen Sinne auch als echte Singularitäten aufgefasst. Sie sind also laut Theorie Entitäten, die keinerlei Ausdehnung haben und masselos sind. * Ihre unterschiedlichen Massen erhalten sie laut des Standardmodells der Elementarteilchenphysik durch die Kopplung mit dem sogenannten Higgsfeld. Es gibt jedoch Bestrebungen, sowohl in der Kosmologie als auch in der Elementarteil-chenphysik Theorien ohne derartige Singularitäten zu erstellen, da es a) umständlich ist, mit Unendlichkeiten zu rechnen und b) Elementarteilchen ohne jegliche Ausdehnung im Konflikt mit der ausgedehnten Wirklichkeit zu stehen scheinen, in der wir leben. Ich glaube jedoch, dass hier kein Konflikt vorliegt – oder wir umgekehrt feststellen müssen, dass viel mehr ein unerkannter grundsätzlicher Konflikt bezüglich unseres Verständnisses von Ausdehnung vorliegt. Auch die Gegensätze zwischen Ausdehnung und Nichtausdehnung scheinen, in ihrer Totalität konsequent durchgedacht, ineinander zu fließen.

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*Streng genommen ist die Rede von Elementarteilchen ohnehin irreführend, da in der Physik seit einigen Jahrzehnten das, was wir ein Elementarteilchen nennen, als lokale Anregung eines zugehörigen omni-präsenten Feldes gesehen wird. Auch Bewegungen der Elementarteilchen lassen sich erschöpfend mit Änderungen der Anregungszustände der entsprechenden Felder erklären. Man könnte sagen, dass das, was wir als Elementarteilchen identifizieren, eine lokale Vibration ist, die sich wellenartig in ihrem Feld fortpflanzt. Ein Elementarteilchen ist damit gar nicht als autarke, fundamentale Entität zu betrachten, sondern viel mehr das ihm zugrundeliegende Feld, welches an jedem existierenden Raumzeitpunkt anwesend ist. Diese Sicht wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass alle Elementarteilchen eines Typs als identisch gelten: Zwei Elementarteilchen des gleichen Typs im gleichen Zustand sind ununterscheidbar voneinander. Bei einer Menge von n Elementarteilchen des gleichen Typs ist zwar die Gesamtanzahl der Teilchen bestimmbar, aber nicht, welches konkrete Teilchen welchen konkreten Zustand innehat. Im Experiment gelingt die Unterscheidung identischer Teilchen nur durch die Betrachtung unterschiedlicher Endzustände – es ist aber unmöglich, zu bestimmen, welches konkrete Teilchen woher kam und welchen Weg es genommen hat. Dies könnte eine Metaphorik bieten, über Individuen bzw. deren Ich-Instanzen nachzudenken. Sind sie auch ununterscheidbar im gleichen Zustand, also jenseits eines konkreten Handelns bzw. jenseits einer konkreten Aktualisierung in der Raumzeit, als aktualisierte Individuen in der Raumzeit jedoch unterscheidbar?