Dieser Text schließt an den Beitrag „Res cogitans: Ist phänomenales Erleben ausgedehnt?“ an und ist – mit dem Format entsprechenden Abwandlungen – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?

Es gibt starke Gründe dafür, das personal einheitliche Ich-Empfinden im mathematischen Sinne als echte Singularität aufzufassen. Sowohl das Ich als auch echte Singularitäten weisen auffallende Parallelen auf: Beide sind absolut und irreduzibel und Rechenoperationen wie Division, Multiplikation, Addition oder Subtraktion sind nicht sinnvoll auf sie anwendbar. Bei den mathematischen Singularitäten sind sie nicht definiert, das Ich zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht teilbar (Division), reduzierbar (Subtraktion) oder mit anderen Ichs summierbar (Multiplikation und Addition) ist. Anderenfalls wäre die rede von einem Ich nicht mehr sinnvoll, da es sich dadurch auszeichnet, dass es fundamental mit sich und nur mit sich identisch ist.

Die Urknall-Singularität ist offensichtlich in der Lage, das Universum zu instantiieren. Unser Ich ist, wie gezeigt wurde, der fundamentale, unhinterschreitbare Bezugspunkt all unseren Welterlebens. Wir kommen nicht hinter unser Ich. Ist es damit nicht der geeignete Kandidat für eine Instantiierungsebene? Muss man möglicherweise einfach nur die Urknall-Theorie dahingehend erweitern, als dass die Singularität, die das Universum instantiiert, „ich“ zu sich „sagt“? Dann bräuchte es kein neues Konzept, nur eine Neuinterpretation des bereits Erkannten. Singularität und Ich sind einander so ähnlich, dass ich dazu tendiere.

Der Klarheit halber möchte ich auch Folgendes erwähnen, was etwas trivial klingt: Wir Menschen sind ganz offensichtlich keine schwarzen Löcher. Die echte Singularität des Ich scheint also nicht in der Form aufzutreten, dass eine Masseansammlung sich auf derart kleinem Raum zusammenballt, dass die Krümmung der Raumzeit an dieser Stelle einen unendlichen Wert annimmt. Im Gegenteil ist sie ja nicht als Resultat einer spezifischen Form der Masseansammlung zu betrachten (das war ja ein Kernpunkt meiner ganzen bisherigen Argumentation), sondern ist schon immer jenseits dessen. Allerdings gibt es auch begründete Zweifel an der Auffassung, dass eine lokale Masseansammlung die Krümmung der Raumzeit verursacht in dem Sinne, dass sie ihr vorausgeht. Fruchtbarer scheint es zu sein, Raumzeit-Krümmung und Masseansammlung simultan zu denken. Auch gibt es Grund zur Annahme, dass das Ich in irgendeiner Weise mit der Gravitation assoziiert ist. Beides führe ich in Kapitel 4.5. meines Buches aus. Mögliche Ansätze dafür, wie genau das Ich im Rahmen einer mathematischen Theorie (freilich nie wirklich einholbar, aber indirekt in Form einer echten Singularität) schematisch dargestellt werden kann, stelle ich in Kapitel 4.8. dar.

Wie können wir uns eine Welt vorstellen, deren Ursprung das Ich ist? Bin dann alles ich? Oder gibt es unendlich viele verschiedene Ichs, die alle gemeinsam die Welt instantiieren? Wir werden sehen, dass uns die Klarheit der Antwort auf diese Fragen ebenso wie Sand zwischen den Händen zerrinnt wie schon bei der Suche nach einer Definition von Ausdehnung und Nicht-Ausdehnung, von Absolutem und Relativem. Dies liegt am Wesen der Singularität, angesichts derer die zweiwertige Logik, also das Entweder-Oder, einfach zusammenbricht. Dennoch können wir, wenn wir gerade dieses Zerrinnen und In-eins-Fallen an den Grenzen unserer Wirklichkeit als gegeben akzeptieren, innerhalb dieser Grenzbedingungen neue Erkenntnisse von erstaunlicher Klarheit gewinnen – und feststellen, dass das Zusammenbrechen der zweiwertigen Logik gewissermaßen Alltag für uns alle ist.