Der folgende Text ist – dem Blog-Format entsprechend leicht abgewandelt – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie – Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum die Mathematik so außerordentlich gut zur Beschreibung und Prognose des Verhaltens unserer materiellen Wirklichkeit geeignet ist? Ich schon! Genau deswegen frage ich mich schon seit einer Weile, ob es so etwas wie ein Wesen der Mathematik gibt und wenn ja, wie man es bestimmen kann. Ich möchte erfassen, was sie im Besonderen ausmacht, wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen und was uns ihre Existenz sowie ihr unglaublicher Erfolg über die Beschaffenheit des Universums verrät.

Besonders bei Vertretern des Physikalismus erfreut sich die Mathematik größter Beliebtheit. Die konsequentesten seiner Vertreter wie zum Beispiel weisen darauf hin, dass die Mathematik allein genüge, um die Wirklichkeit vollständig beschreiben zu können – und das meinen sie in dem Sinne, dass auch Bewusstsein damit vollständig erfassbar sei, sei Bewusstsein doch identisch mit – auf fundamentaler Ebene bewusstlosen – physikalischen Prozessen, die wiederum vollständig mathematisch beschrieben werden können. Auch wenn diese Behauptung nur bei wenigen physikalistischen Denkern in dieser Radikalität zu finden ist, so können intentionale Beschreibungen der Wirklichkeit (also die Erklärung von Prozessen dadurch, dass man der Entität, deren Verhalten man beschreiben will, mentale Eigenschaften und Willen zuschreibt) im Physikalismus dennoch nicht mehr als explanatorisch nützliche Abstraktionen betrachtet werden, da ja der Kern des Physikalismus in der metaphysischen Auffassung besteht, dass alles Existierende letztlich physischer Natur sei – und gemäß dem Physikalismus ist diese Physis, wie bereits erwähnt, im Grunde ihres Seins bewusstlos. Panpsychisten wie zum Beispiel Philip Goff halten dem entgegen, dass die Realität mit dem nüchternen Vokabular der Physik unmöglich erschöpfend beschrieben sein könne (vgl. Goff, Philip (2017): Consciousness and Fundamental Reality, S.135 ff.). Mithilfe der Mathematik ließe sich lediglich die kausale Struktur des Universums auf abstrakte Weise beschreiben. Damit jedoch könne uns die Mathematik nur Aufschluss darüber geben, wie sich eine Entität verhalte und nicht, was sie ihrem Wesen nach sei. Sie sei zirkulär geschlossen: Die grundlegenden Entitäten aller physikalischen Theorien seien so definiert, dass sie ein in sich geschlossenes abstraktes Muster von Relationen bilden. Sie seien durch ihre Funktionen definiert, die sie innerhalb dieses Musters haben; sie seien also viel eher „doings“ als „beings“. Doch selbst was die Entitäten darin konkret täten, bleibe damit im Grunde genommen unsichtbar, da eine Kenntnis über das Tun einer Entität A eine Kenntnis über Entität B, auf die sie mit ihrem Tun einen Effekt ausübt, voraussetze – welche aber durch nichts anderes als ihren Effekt auf Entität A definiert sei. Wäre diese Sicht tatsächlich eine vollständige und zutreffende Beschreibung der Realität, wäre es logisch unmöglich herauszufinden, sowohl was eine Entität tue, als auch, was sie sei. Jegliche Erkenntnis über die Natur der Wirklichkeit wäre somit ausgeschlossen (vgl. Goff, Philip (2019): Galileo’s Error. Foundations for a New Science of Consciousness, London: Rider, S.176 ff.). Goff hält diese Sicht berechtigterweise für unintelligibel, denn wäre dies der Fall, müssten wir konsequenterweise all unsere wissenschaftlichen Bemühungen niederlegen.
Folglich muss es eine dem gegenüber externe Instantiierungsebene (also eine fundamentale Ebene, auf der alles Existierende sozusagen „aufsitzt“ und aus der alles hervorgeht) geben, die nicht durch das mathematisch-physikalische Vokabular erfasst werden kann:

„Intuitively, wherever there is mathematico-causal structure, there must be some underlying concrete reality realizing that structure. Physics leaves us completely in the dark about the underlying concrete reality of the physical universe.“

Ebda., S.136

Zwar sei der Ansatz, sich statt einer kompletten Beschreibung der fundamentalen Realität auf die mathematische Beschreibung ihrer kausalen Struktur zu beschränken, extrem erfolgreich gewesen, habe es der Gesellschaft doch eine technologische Revolution bis dato unbekannten Ausmaßes beschert. Genau diese Erfolgsgeschichte sei es auch gewesen, die in der öffentlichen Wahrnehmung auch den Eindruck erzeugt habe, dass die Physik uns ein komplettes Bild der fundamentalen Realität biete, die Physik aber gerade wegen dieser Beschränkung auf diese viel weniger ambitionierte Aufgabenstellung der Beschreibung der kausalen Struktur der Wirklichkeit so erfolgreich gewesen sei (ebda.). Goff sieht den einzigen bisher bekannten Kandidaten für eine Instantiierungsebene der Wirklichkeit im phänomenalen Erleben. Er behauptet also, dass Erleben – und damit Bewusstsein – ein viel plausibleres Fundament der Wirklichkeit ist, und zwar wegen seines absoluten, fundamental nicht relationalen Charakters:

„In some sense an experience has „parts”; my current experience, for example, involves visual experience of colors, auditory experiences of sounds, and emotional experiences of joy. One view is that one’s total experience is a composite event of having many partial experiences, or perhaps of having many partial experiences related in a certain way. An alternative to this “bottom–up” analysis of total experience, to my mind more plausible, is the view that what is more fundamental is the total experience: the total experience is a unity of which the experiential parts are aspects.“

Ebda., S. 221

Goff vertritt eine panpsychistische Position und behauptet daher nicht, dass phänomenales Erleben allein in menschlichen und einigen tierischen Lebewesen auftritt, sondern dass es eine bzw. die fundamentale Eigenschaft des gesamten Kosmos sein müsse. Er vertritt eine Variante des Cosmo-psychism, einer Auffassung, in der der Kosmos als Ganzes als die fundamentale Einheit der Wirklichkeit betrachtet wird (und nicht die Ebene der Elementarteilchen), der folgerichtig auch die Eigenschaft zukommt, eine Entität mit phänomenalem Erleben zu sein. Wie genau er dieses Weltbild entwirft, kann ich hier nicht ausführen, da der Schwerpunkt hier ein anderer sein soll – aber ich komme ohnehin zu einem sehr ähnlichen Schluss, wie sich später noch zeigen wird. Hier möchte ich zunächst anknüpfend an die Ausführungen von Goff daran möchte ich zwei Gedanken-gänge einführen, die eng miteinander verbunden sind, aber als unterschiedliche Aspekte beide Beachtung finden sollten:

  1. Es bleibt bei Goff – und auch bei anderen Vertretern sowohl des Panpsychismus als auch sämtlicher monistischer und dualistischer Weltsichten – im Dunkeln, warum genau diese Einheit des phänomenalen Erlebens vorliegt. Meines Erachtens kann diese nicht in den veränderlichen Aspekten des phänomenalen Erlebens selbst begründet liegen. Diese mögen zwar irgendwie aufeinander bezogen sein oder, wie Goff ja auch sagt, als Totalität aller Erlebnisse diese Einheit darstellen, aber um eine genuine Einheit und nicht nur eine Ansammlung zu sein, müssten alle Aspekte auf eine gemeinsame Instanz bezogen sein, die selbst nicht einfach nur die Summe (oder Totalität) aller Erlebnisse sein kann. Es reicht mir nicht zu sagen: Ich definiere die Totalität aller Erlebnisse als Einheit und die Einzelerlebnisse als Aspekte. Eine Aufsummierung aller Einzelerlebnisse ergibt meines Erachtens einfach nur einen Haufen Einzelerlebnisse. Die Relation dieser Einzelerlebnisse zueinander kann diese Einheit nicht stiften, denn Relationalität bedeutet eben, dass mehrere Teile miteinander in Beziehung stehen. Diese Beziehung mag perfekt geordnet und harmonisch sein, aber eine Beziehung ist eine fundamental relative Geschichte – das ist die Bedeutung des Wortes Beziehung. Es muss noch eine Instanz geben, die im wahrsten Sinne des Wortes Einheit, weil in sich eins ist. Diese kann nicht zusammen-gesetzter Natur sein. Nur diese Instanz kann ein geeigneter Kandidat für eine Instantiierungsebene sein.
  2. Eben dieser Umstand, dass auch das phänomenale Erleben prozesshaft und zusammengesetzt aus vielen Aspekten ist, ist der Grund für mich, Erlebnisvorgänge als eben doch dem Reich des mathematisch Fassbaren zugehörig zu erachten. Sowohl Goff als auch Vertreter des Physika-lismus haben ein Verständnis von Mathematik, in dem ein bedeutsamer Teil ihrer Möglichkeiten unerkannt bleibt. Vor allem wird übersehen, dass auch Mathematik eine Sprache ist und kein kategorischer Unterschied zwischen dem Verfassen eines linguistisch formulierten Textes und dem Verfassen mathematischer Formeln besteht, lediglich ein gradueller. Wenn Goff oder andere Denker den Anspruch erheben, einen adäquaten und die Wirklichkeit zutreffend beschreibenden Text über die Eigenschaften phänomenalen Erlebens verfassen zu können, kann es keinen prinzipiellen Grund geben, diesen Anspruch dem Verfassen eines solchen Textes in mathematischen Formulierungen nicht zuzubilligen, zumal die formelhafte Sprache der Mathematik lediglich die Möglichkeit von Missverständnissen und Fehlinterpretationen reduziert. Dies ist auch in Bezug auf die Rede über phänomenales Erleben wünschenswert. Davon unangetastet bleibt natürlich die Feststellung, dass eine sprachliche Beschreibung niemals die Wirklichkeit selbst ist, die sie beschreibt, sei sie linguistischer oder mathematischer Natur.

Es ist grundsätzlich sehr interessant und baut nachhaltig Vorurteile über die Mathematik ab, einige prinzipielle Überlegungen darüber anzustellen, was Mathematik eigentlich ist und was ihre erstaunliche Anwendbarkeit uns über das Verhältnis von Geist und Materie verrät.