Dieser Text schließt an den Beitrag „Res extensa: Wissen wir wirklich, was Ausdehnung ist?“ an und ist – mit dem Format entsprechenden Abwandlungen – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?„
Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen, warum ich glaube, dass das phänomenale Erleben auch als irgendwie dem Modus „ausgedehnt“ angehörig gesehen werden kann: Auch wenn das phänomenale Erleben selbst nicht sinnvoll in physikalischen Größen wie Größe, Masse, Ladung etc. erfasst werden kann, so bezieht es sich doch unmittelbar oder mittelbar auf etwas, das diese Dimensionen besitzt und/oder auf die Inhalte phänomenalen Erlebens eines anderen Subjekts. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Mein Erleben des Tisches vor mir ist nicht 80 Zentimeter breit, 40 Zentimeter tief und 60 Zentimeter hoch, wiegt nicht 5 Kilogramm und besteht nicht aus Holz, aber ich erlebe genau diese Attribute des Tisches ebenso wie seine Farbe, Haptik und andere sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften. Allein deswegen bekommt mein Erleben schon relationalen Charakter, und zwar einen, der unmittelbar mit den physischen Eigenschaften des erlebten Objekts korreliert.* Mein Erlebnisraum und der physische Raum sind direkt aufeinander bezogen. Zumindest gehen wir davon aus, dass dem so ist, da wir sonst nicht sinnvoll sowohl empirische als auch theoretische Wissenschaft betreiben könnten. Diese basiert auf der Grundannahme, dass wir a) unseren Sinnesdaten insofern vertrauen können, als dass sie uns einen Eindruck zu vermitteln vermögen, der in irgendeiner Weise mit der Wirklichkeit korreliert und b) sich unsere Theorien sinnvoll auf diese anwenden lassen. Freilich will ich hier keinem naiven erkenntnistheoretischen Realismus das Wort reden, der annimmt, dass unsere Sinnesdaten uns immer wahre Eindrücke über die Wirklichkeit vermitteln und dass alles, was wir wahrnehmen, ein wahres Abbild der Wirklich-keit ist, aber derlei erkenntnistheoretische Fragen möchte ich in Kapitel 2 etwas näher beleuchten. Vorerst möchte ich es dabei belassen, worauf sich wohl sowohl erkenntnistheoretische Konstruk-tivistinnen als auch Realistinnen einigen können, weil diese Annahme Voraussetzung dafür ist, Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit als sinnvoll und gültig anerkennen zu können: Es gibt irgendeine Art von Korrelation zwischen Sinnesdaten und Wirklichkeit.
Eine Relationalität tritt auch beim Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf, sowie beim Erleben der mitgeteilten oder mitgefühlten Gedanken und Gefühle einer anderen Person. Zum einen korrelieren die eigenen Gedanken und Gefühle immer auch mit körperlichen, also physikalischen Zuständen, z.B. des Gehirns, des Nervensystems, des Kreislaufs etc. (auch dieser These werden Konstruktivistinnen wie Realistinnen zustimmen), zum anderen beziehen sich Gedanken und Gefühle immer auf etwas oder auf jemanden, der diese Gedanken und Gefühle auslöst. Selbst wenn es nur Gedanken oder andere Gefühle, also reine Qualia waren, die das jetzige Gefühl auslösen, so beziehen sich diese Gefühle aufeinander, haben eine Relation zueinander; ergo können auch Qualia relativ sein. Ich glaube, dass es weiterführend sein könnte, genau aus diesen Gründen phänomenales Erleben als ausgedehnt zu betrachten – als eine Art „Erlebnisraum“, treffender noch eine „Erlebnis-raumzeit“: Phänomenales Erleben spielt sich immer in der Zeit ab, hat wechselnde Inhalte, ist immer ein Prozess, stellt immer eine Entwicklung dar. Das hat phänomenales Erleben mit dem physischen Aspekt der Wirklichkeit gemeinsam, der einen ebenso essentiellen temporalen und prozessualen Charakter aufweist.
Philip Goff wies im oben genannten Zitat darauf hin, dass es nötig sei, eine Instantiierungsebene für die physische Welt zu finden, deren kausale Struktur durch die Mathematik beschrieben werde. Bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, dass wir mit dem phänomenalen Erleben an sich meines Erachtens nicht die gesuchte absolute Instanz gefunden haben, die eine geeignete Instantiierungs-ebene für die physische Welt ist. Viel mehr hat sich durch die obigen Überlegungen gezeigt, dass zusätzlich Bedarf für eine Instantiierungsebene des phänomenalen Erlebens besteht, und zwar, weil dies ebenso relational und prozessual ist wie die physischen Entitäten. In Anbetracht der weiter oben aufgezeigten offensichtlichen Wesensverwandtschaft von Physis und Psyche liegt es nahe, für sowohl den mentalen als auch den physischen Aspekt der Wirklichkeit eine gemeinsame Instantiierungsebene zu suchen.
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*Hier habe ich zur Verdeutlichung des Prinzips von sensorischen Täuschungen oder physischen Phänomenen jenseits der unmittelbaren Anschaulichkeit abgesehen, die zur korrekten Interpretation einen höheren mentalen Dekodierungsaufwand der durch die Sinne übermittelten Daten und/oder technische Hilfsmittel erfordern, um die Phänomene unseren Sinnen zugänglich zu machen. Auch Überzeugungen und emotionale Prägungen haben einen Einfluss auf die Weltwahrnehmung, und die sind bei jedem Menschen einzigartig. Dennoch kann man wohl mit Fug und Recht sagen, dass die Wahrnehmung der physischen Merkmale eines Tisches, einer Tasse, einer Straße oder einer Landschaft nicht derart dadurch beeinflusst wird, dass der eine Mensch einen Tisch beispielsweise als rund und der andere Mensch denselben Tisch als eckig wahrnimmt. Je nach individueller Prägung und Gemütslage wird man einen anderen Wahrnehmungs-fokus haben und dementsprechend werden die einen Menschen etwas wahrnehmen, was die anderen Menschen ausblenden und umgekehrt. Aber ich glaube, wir können davon ausgehen, dass bei entsprechender Lenkung der Aufmerksamkeit auf die ausgeblendeten Objekte alle Menschen unabhängig von ihrer Prägung und Gemütslage die physischen Merkmale eines Objekts identisch wahrnehmen, denn wir alle können uns intersubjektiv über beispielsweise Form, Farbe und Gewicht eines Objekts einig werden, selbst wenn wir zunächst unterschiedliche Terminologien benutzen würden. Es mag auch da Extremfälle, also Menschen mit extrem abweichender Wahrnehmung geben. Dennoch denke ich, dass wir uns zumindest im Mittel mit sehr großer Sicherheit auf die Zuverlässigkeit oder viel mehr die prinzipielle intersubjektive Übereinstimmung unserer Sinneswahrnehmungen verlassen können, wenn es um die Wahrnehmung von physischen Objekten geht.
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