Dieser Text schließt an den Beitrag „Absolute Naturen in der Mathematik und Physik: Echte Singularitäten“ an und ist – mit dem Format entsprechenden Abwandlungen – ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch greifbar?„
Es gibt Anlass, das normalerweise implizit und unhinterfragt vorausgesetzte Postulat des kategorischen Unterschieds zwischen Ausgedehntsein und Nichtausgedehntsein zu hinterfragen. Die Urknall-Theorie basiert auf dem Postulat, dass aus etwas Nichtausgedehntem etwas Ausgedehntes entstehen kann. So ist das Universum laut kosmologischem Standardmodell aus einer Singularität entstanden. Wie soll man sich das vorstellen? Wie kann etwas Nichtausgedehntes etwas Ausgedehntes hervorbringen? Wenn man sich vergegenwärtigt, dass genau dies die gegenwärtig bevorzugte, weil empirisch außerordentlich gut belegte Theorie ist, kommt man nicht umher, in Betracht zu ziehen, dass aus „nicht ausgedehnt“ tatsächlich „ausgedehnt“ werden kann – auch für den umgekehrten Fall: aus vormals in Zeit und Raum ausgedehnter Materie wird, wenn Einstein Recht behält, unter entsprechenden Voraussetzungen eine nichtausgedehnte Singularität jenseits von Zeit und Raum im Zentrum eines Schwarzen Lochs. Das Gleiche trifft auf die Quantenfeldtheorien zu: Die Elementarteilchen werden dort als nichtausgedehnt, also punktförmig betrachtet. Auch experimentell konnte ihnen bisher kein von Null verschiedener Durchmesser nachgewiesen werden. Dennoch sind es genau diese „nichtausgedehnten“ Entitäten, aus denen unsere „ausgedehnte“ Wirklichkeit besteht. Für viele Physiker und Physikerinnen ist genau dies der Grund anzunehmen, dass Singularitäten das Anzeichen dafür sind, dass an dieser Stelle die Theorie zusammenbricht, also dass sie das ungültige Ergebnis einer an dieser Stelle nicht mehr anwendbaren Theorie sind.* Doch in Anbetracht dessen, dass all jene oben benannten Theorien in so vielen Aspekten so außerordentlich gut experimentell bestätigt sind, so viele höchst präzise Vorhersagen gemacht haben und es bisher keine vergleichbar explanatorisch starken Alternativen gibt, bin ich geneigt, ein Versagen auch an dieser Stelle nicht anzunehmen. Eher nehme ich an, dass es Gründe gibt, echte Singularitäten als notwendiges und wesentliches Element einer etwaigen Theory of Everything zu betrachten, doch darauf komme ich später zurück. Hier sei erst einmal mit ein wenig Vorschussvertrauen die Übereinstimmung der durch die oben genannten Theorien postulierten Singularitäten mit der Realität angenommen.** Vor diesem Hintergrund beginnt der Begriff des Ausgedehntseins seine vermeintliche Klarheit und seine Abgrenzung zum Nichtausgedehntsein zu verlieren: Was ist Ausgedehntsein, wenn es im Nichtausgedehntsein gegründet ist und auch wieder – siehe Schwarze Löcher – zu einem solchen werden kann? Was ist überhaupt Nichtausgedehntsein? Kann man plausibel von Nichtausgedehntsein sprechen, wenn der Begriff „Dimension“ in einer punktförmigen Singularität schlicht nicht definierbar ist? Von „außen“ betrachtet scheint die Singularität ein Punkt zu sein, also keinerlei Ausdehnung zu haben, aber wir dürfen, wenn wir das Zusammenbrechen logischer Kategorien angesichts der Singularität wirklich ernst nehmen, dennoch nicht davon ausgehen, dass wir sie dadurch eindeutig im Sinne einer definierten Dimensionsangabe charakterisiert haben. Das Prädikat „Nichtausgedehntsein“ wäre definiert insofern, als dass der nichtausgedehnten Entität der klar bestimmbare Zustand des Nichtausgedehntseins zukommt (im Sinne des Prinzips der logischen Zweiwertigkeit). Doch es ist ja gerade die schlechthinnige Undefinierbarkeit der Singularität, die sie als solche auszeichnet. Kann man in letzter Konsequenz also wirklich noch von einem wesensmäßigen Unterschied zwischen den beiden Zuständen sprechen? Oder ergibt es angesichts dessen nicht eher Sinn, diese Zustände als zwei Aspekte oder zwei Modi ein- und derselben Entität anzusehen? Der Wechsel zwischen diesen Zuständen scheint jedenfalls, wenn Einstein Recht hat, ein reguläres Ereignis im Naturgeschehen zu sein.
Folgende Frage kann die Unbestimmtheit des Unterschiedes zwischen Ausgedehntsein und Nichtausgedehntsein weiter verdeutlichen: Ist ein Traum ausgedehnt? Also glauben wir, dass das nächtliche Traumerleben in einem außerhalb des eigenen Bewusstseins existierenden dreidimensionalen Raum stattfindet? Ich glaube nicht. Kann man sich im Traum dennoch im Raum bewegen, also hat man Freiheitsgrade der Bewegung? Ja, die hat man, und das kann vollkommen realistisch erlebt werden, obwohl wir uns meines Erachtens sicher sein können, dass der Traum nicht in diesem unseren „real ausgedehnten“ Raum stattfindet, den wir aus der Wachwelt kennen und den wir als Wirklichkeit bezeichnen, sondern dass seine Ausdehnung zumindest in Bezug auf die intersubjektiv zugängliche Wirklichkeit der Wachwelt „imaginär“ ist. Allerdings trifft die Unterscheidung real und imaginär auch nicht ganz den Kern und ist auch ontologisch nicht mit letzter Sicherheit zu behaupten. So ist der Traumraum ja ebenso real für die Erlebende, zumindest im Moment des Traumes. Möglicherweise ist, bezogen auf den Aspekt der räumlichen Ausdehnung, der einzige Unterschied zwischen Traumraum und Weltraum, dass letzterer kollektiv zugänglich ist, ersterer lediglich für die Träumende selbst. Was angesichts der Stabilität unserer Realität im Gegensatz zur Diffusität und Phantastik unserer Träume zunächst absurd klingt, möchte ich in Kapitel 4.2. meines Buches näher erläutern.
So ein Traum ist ja auch eine Art von phänomenalem Erleben. Dieser Traum ist irgendwie ausgedehnt. Ist also phänomenales Erleben ausgedehnt?
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* Spannend ist auch eine andere sprachliche, aber inhaltlich mehr oder weniger identische Variante dieser Begründung, nämlich dass Singularitäten ein Zeichen für den Zusammenbruch einer Theorie an der betreffenden Stelle seien, da Singularitäten unphysikalisch seien. Besonders spannend an dieser allgemein gebräuchlichen Formulierung ist, dass in ihr besonders deutlich eine implizite Überzeugung hervortritt, die im Normalfall völlig unhinterfragt hingenommen wird, nämlich dass alles, was real ist, physikalischer Natur ist. In dieser Aussage steckt also ganz viel Metaphysik – und zwar physikalistische Metaphysik.
** Damit möchte ich die Arbeit an alternativen singularitätenfreien Erklärungsmodellen wie der Schleifenquantengravitation oder den verschiedenen Stringtheorien keineswegs als aussichtslos abtun. Da sie beide auf der Größenordnung der Planck-Skala ansetzen, also der kleinsten Größenordnung, in der die uns bekannten Gesetze der Physik noch ihre Geltung haben können, halte ich sie für wichtige Grundlagenarbeit zu einer weiteren Erkenntnis der Basiskonfiguration von Materie/Energie. Es mag auch möglich sein, eine völlig singularitätenfreie Theorie der Materie zu finden, welches sich experimentell bestätigen und sich auch erfolgreich in technologische Anwendungen überführen lässt. Damit ist dann aber trotzdem nichts ausgesagt über eine etwaige tatsächliche Existenz oder Nichtexistenz von Singularitäten bzw. ist es dann, wie gesagt, eine Theory of Matter, nicht eine Theory of Everything, da, wie ich später ausführen werde, der zentrale mathematische Begriff für das Ich in ihr fehlt.
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