Dieser Beitrag ist ein Auszug aus meinem Buch „Phänometrie. Ist Bewusstsein mathematisch fassbar?“ schließt an an eine Passage im Buch, in der ich postuliere, dass Materie immer sowohl einen physischen als auch einen psychischen Aspekt hat, dass diese zwei Seiten derselben Medaille (also co-extensiv) sind und dass es demnach so etwas wie eine erlebnis- und bewusstseinsunabhängige Materie nicht gibt. Ich vertrete damit eine panpsychistische Position. Während ich im Buch ausführlich darlege, warum ich dies annehme, belasse ich es hier bei dem Postulat, im Bewusstsein, dass das natürlich eine steile These ist.
Wir könnten nun annehmen, dass wir mit den korrelierenden Gehirn- und Körperzuständen schon die Außenseite von Gefühlen und Gedanken vollständig erkannt haben. Zunächst scheint es keinen Grund zu geben, eine darüber hinaus gehende, bis dato unerkannte objektive Seite von Gefühlen und Gedanken anzunehmen. Die empirische Nahtodforschung liefert jedoch starke Indizien dafür, dass Gehirn- und andere Körperzustände allein nicht den vollständigen objektiven Aspekt der Gedanken und Gefühle bilden können. Deren Studienergebnisse legen ein kontinuierliches phänomenales Erleben auch außerhalb des Körpers und unabhängig vom Gehirn nahe, wie sich am Beispiel einiger Fälle klaren Bewusstseins trotz des medizinisch festgestellten Hirntods nachweisen ließ:
„From these studies we know that in our prospective study as well as in the other studies of patients who have been clinically dead (VF on the ECG), total lack of electric activity of the cortex of the brain (flat EEG) must have been the only possibility, but also the abolition of brainstem activity […] is a clinical finding in those patients. However, patients with an NDE can report a clear consciousness, in which cognitive functioning, emotion, sense of identity, and memory from early childhood was possible, as well as perception from a position out and above their “dead” body.“
Van Lommel, Pim: About the Continuity of Our Consciousness, In: Brain Death and Disorders of Consciousness. Machado, C. and Shewmon, D.A., Eds. New York, Boston, Dordrecht, London, Moscow: Kluwer Academic/ Plenum Publishers, Advances in Experimental Medicine and Biology Adv Exp Med Biol. 2004; 550: 115-132; S. 7
Eine kurze Anmerkung zum Status der empirischen Nahtodforschung in der Wissenschaft: Die empirische Nahtodforschung hat im wissenschaftlichen Diskurs derzeit ein Außenseiterdasein inne. Ihr Außenseiterdasein ist meines Erachtens eher auf ideologische als auf fachliche Gründe zurück-zuführen. Innerhalb der reduktionstisch-physikalistisch geprägten Wissenschaftsgemeinde treffen alternative Hypothesen zur Frage, was Bewusstsein ist, auf Voreingenommenheit. Zum einen liegt dies sicher daran, dass die Nahtodforschung und ihr Postulat eines überdauernden, immateriellen Bewusstseins dem derzeit dominanten physikalistischen Paradigma widersprechen. Zum anderen vermute ich, dass ihre Forschungsergebnisse – unberechtigterweise – Befürchtungen aufrufen, dass man durch ihre Anerkennung in einen vormodernen religiösen Glauben zurückfallen und damit die Säulen der (post)modernen Gesellschaftsordnung untergraben könnte. So ist eine Begegnung mit Lichtwesen oder auch mit Gott respektive einer göttlichen Kraft ein immer wiederkehrendes Element in Nahtoderfahrungen. Mit Gott aber wird in den durch die abrahamitischen Religionen geprägten Ländern auch immer die Existenz der Hölle und der ewigen Verdammnis von Sündern verbunden, die von Gott höchstpersönlich in die Hölle verbannt werden – potentiell für verschie-denste auch kleine Vergehen, die zu vermeiden für gewöhnliche Menschen nahezu unmöglich ist. Ebenso wird mit Gott durch die Lehren der institutionalisierten Religionen eine Leib- und Sexualfeindlichkeit verbunden sowie die strenge Unterordnung der Frau unter ihren Ehemann, dem sie als von ihm abkünftiges Wesen zu Gehorsam und Dienst verpflichtet ist. All dies und andere Grausamkeiten wie die gnadenlose Bestrafung von sogenannten Heiden oder die Behandlung von heidnischen Frauen als recht- und seelenlose Objekte sexueller Lustbefriedigung (rechtgläubige Frauen sind aufgrund ihres sündigen Geschlechts rechtlich freilich auch nicht so viel besser gestellt, werden aber wenigstens als beseelte Menschen angesehen und können auf den Lohn Gottes nach erfolgter Hingabe in ihre gottgegebene Stellung unterhalb des Mannes hoffen), die Gott laut Bibel, Thora oder Koran gutheißt und zu denen er die Menschen anstiftet, sind Aspekte, von denen man sich in einem rationalen Weltbild nur allzu gerne verabschiedet hat. Doch bestätigen Nahtoderlebnisse diese furchtbaren Dogmen und angeblichen Charakterzüge Gottes nicht!1 Im Gegenteil sind die meisten Nahtoderfahrenen nach ihrem Erlebnis zwar spiritueller und gläubiger als noch vor ihrem Erlebnis, wenden sich aber oft von institutionalisierten Religionen ab.Die Nahtodforschung steht nicht im Widerspruch zu bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern erweitert sie lediglich. In der hier zitierten Studie, die selbstverständlich offen einzusehen ist, finde ich weder methodische Fehler noch unzulässige Interpretationen der gewonnenen Daten, die es plausibel machen würden, ihre Legitimität grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Ebenso kann ich keine religiösen Postulate oder gar Forderungen feststellen, ein bestimmtes Glaubenssystem unhinterfragt zu übernehmen. Es werden lediglich die empirisch gewonnenen Daten auf rational nachvollziehbare Weise interpretiert. Die nach Meinung des Autoren und auch in meinen Augen wahrscheinlichste Hypothese, die sich daraus ergibt, ist, dass das Bewusstsein einer Person nicht an den physischen Körper gebunden sein kann. Angenommen also, dass hier valide Ergebnisse ermittelt wurden, können Gehirnzustände unmöglich den vollständigen objektiven Aspekt von Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen darstellen, wenn diese der Person auch während Phasen des Hirntodes erhalten bleiben. Um tiefer in eine Evaluierung der Beweiskraft von Nahtoderfahrungen und anderen außeralltäglichen Bewusstseinsphänomenen in Bezug auf ein Überleben des Bewusstseins nach dem Tode einzutauchen, empfehle ich den Essay „Climbing Mount Evidence“ von Dr. Michael Nahm und die EREAMS-Studie von Prof. Dr. Oliver Lazar, deren Ergebnisse er in seinem Buch „Jenseits von Materie“ zusammengefasst hat. Auch der schwedische Philosoph Jens Amberts argumentiert dafür, dass ein Leben nach dem Tode des physischen Körpers als „empirisch gesichert“ betrachtet werden kann. Er vergleicht dazu die Erlebnisse von Nahtoderfahrenen mit dem Szenario eines Raumes, welcher vollständig von der umgebenden Welt isoliert ist, sodass keinerlei Signal herauszudringen vermag und auch keinerlei Instrumente die Wände des Raumes überwinden könnten, um Informationen über die Gegebenheiten innerhalb des Raumes zu gewinnen. Von Zeit zu Zeit dürften aber ein paar Ausgewählte in diesen Raum gehen, ihn erforschen und anschließend über ihre Forschungsergebnisse berichten. Wenn nun die Berichte einer ausreichenden Anzahl von Menschen über die Gegebenheiten in diesem Raum miteinander übereinstimmen, wäre es vernünftig, wenn wir die dortigen Gegebenhei-ten als empirisch gesichert betrachten würden, selbst wenn diese sonderbar in dem Sinne wären, dass sie beispielsweise unserem aktuellen Verständnis der Naturgesetze widersprächen. In letzterem Falle bräuchte man eine noch höhere Anzahl von übereinstimmenden Berichten und idealerweise auch eine ausreichende Anzahl von entsprechenden Berichten sowohl von Menschen, die mit einer skeptischen Haltung in die Erforschung des Raumes gegangen seien als auch von Menschen, deren Bericht aufgrund ihrer besonderen fachlichen Qualifikation ein hohes Ausmaß an Verlässlichkeit habe. Sei dies gegeben, könne man auch dann die dortigen Gegebenheiten als empirisch gesichert annehmen. Genau dies, so Amberts, sei im Falle von Nahtoderfahrungen der Fall. Es gebe eine ausreichende Anzahl an übereinstimmenden verlässlichen Berichten und dass diese in der Wissen-schaft nicht im breiten Maßstab anerkannt würden, sei entweder das Resultat von Ignoranz, Irrationalität oder beidem.2
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1 Es gibt aber definitiv auch sogenannte Höllenerfahrungen, nur konnte ich in ihnen keine Hinweise darauf ausmachen, dass die Menschen durch Gott in die Hölle geworfen wurden bzw. dass eine externe Kraft ihnen dies als Strafe auferlegt. Viel eher scheint sich die Hypothese zu erhärten, dass sie durch ihren eigenen Bewusstseinszustand, ihre innere Haltung zur Welt und zu sich selbst oder auch infolge ihrer eigenen Taten in diese Bereiche gelangen. (In einem Artikel des Autors Benjamin Bruel mit dem Titel „Am Abgrund zur Hölle: die dunkle Seite von Nahtoderfahrungen“, welcher am 02.11.2016 online in der Zeitschrift „Vice“ erschien, sind entsprechende Erfahrungen und ihr Kontext zusammengefasst.) Bei Letzterem scheint zwar schon ein Tun-Ergehens-Zusammenhang vorzuliegen. Jedoch obliegt das Tun der Verantwortung des Handelnden und das darauf folgende Ergehen wird nicht durch Gott oder eine andere externe richtende Kraft initiiert. Es wird immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man von Engeln, Heiligen oder religiösen Führerfiguren wie Jesus Christus aus den Höllenbereichen gerettet wird. Gott, Lichtwesen und Engel werden nicht als strafend oder wertend erlebt, sondern als bedingungslos liebend. Freilich berührt auch dies einige sensible Punkte der Theodizee-Problematik und grundsätzlich wird das Thema der Höllenerfahrungen viel zu wenig diskutiert. Es scheint mit großen Tabus belegt zu sein. Dennoch will ich es an dieser Stelle aufgrund der zu großen thematischen Abweichung nicht diskutieren.
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